Hanseatische Eröffnung
Neues vom alten Mann: Wer glaubte, Helmut Schmidt habe den Zenit seiner Medienpenetranz bereits erreicht, wird immer wieder überrascht. Lassen wir aber einmal das Lamentieren über die schmidtsche Dauerbequalmung beiseite, lassen wir auch die demokratietheoretische Empörung darüber, dass ein Altkanzler seinen Nachnachnachnachfolger ausruft, für heute außer Acht. Es soll nur um einige bemerkenswerte Details gehen, auf die uns eine kleine kritische Übung der Bildinterpretation bringt.
Heute ist “Zug um Zug” von Altkanzler (!) Schmidt und Baldkanzler (?) Steinbrück erschienen. Auf dem Cover werden uns zwei Männer beim Schachspielen präsentiert; in Wirklichkeit ist natürlich jedem klar, dass das alles Symbolik ist: Kluge Lenker beim intellektuellen Austausch. Aber wenn schon Symbolik, dann bitte auch bis ins Detail durchdacht. Da sieht es hier doch zweifelhaft aus:
1. Schach wird abwechselnd gespielt. Üblicherweise – zumal wenn, wie hier offensichtlich – ohne Uhr gespielt wird, denkt man über den Zug des anderen nach, bevor man selbst aktiv wird. Auch wenn man das vielleicht nicht mehr nötig hat (Arroganz, Altersweisheit, Altersstarrsinn), ist es doch ganz schlechter Stil, dem Gegner in den laufenden Zug zu greifen. Hier greift schwarz jedoch sogar in Gefilde, wo nur weiße Figuren stehen – eine spielpraktisch kaum vorstellbare Bewegung. Offenbar ging es hier darum, die Nähe der beiden Hände darzustellen, die sich scheinbar sogar fast berühren (jeder Schachspieler würde davor während einer Partie intuitiv zurückzucken) um auszudrücken: Hier sind keine Gegner am Werk, hier sitzen Partner. Symbolik: Wenn der alte Schmidt Lust hat, nach Steinbrücks Bauern zu greifen, dann tut er es einfach. Egal, wer am Zug ist.
2. Schmidt steht hier sehr offensiv. Was hat die schwarze Dame in so einer frühen Spielphase schon mitten auf dem Feld zu suchen? Symbolik: Die reale schwarze Dame ist ja auch schon mitten im Getümmel, wenn hier die SPD nicht dagegenhält, hat sie am Ende das Nachsehen. Merkel als “Dame f3″, das wäre eine klare Kampfansage an Steinbrück. Schmidt hier also eindeutig in der Rolle des Sparringspartners vor dem richtigen Wahlkampf. Symbolik (Variante): Das ganze hat mit Merkel nichts zu tun, Schmidt greift einfach mal wieder viel zu früh dort ein, wo er nichts zu suchen hat.
3. Steinbrück hat offensichtlich klassisch mit e2-e4 eröffnet, die Springer sind solide entwickelt, der Läufer d2 schützt die Königsdiagonale und deckt den Springer vor dem vorwitzigen schwarzen Offizier auf b4. Symbolik: Hier sitzt das Steinbrück-Image par excellence, einer, der weiß, was er tut und sich doch nicht zu weit aus dem Fenster lehnt. Keine Experimente, e2-e4. Einer, der sich bei aller Seriösität nicht zu sehr in der Defensive verkriecht, die Leichtfiguren sind perfekt entwickelt.
4. Bislang ist keine Figur geschlagen worden, der Kampf wird wohlüberlegt angegangen, statt sich gegenseitig des Materials zu berauben. Symbolik: Es ist noch alles drin.
5. Wer eins und eins oder Helmut und Schmidt zusammenzählt, hat dieses Detail natürlich als erstes entdeckt. Symbolik: Peer Steinbrück ist stark und unverwüstlich. Er spielt regelmäßig mit Helmut Schmidt Schach und ist noch nicht an Lungenkrebs gestorben. So einen braucht das Land, so einer kann jede Krise meistern.
6. Steinbrück hat die weißen Figuren, Schmidt die schwarzen. Symbolik: Weiß beginnt. Bei der inoffiziellen Wahlkampferöffnung war es umgekehrt. Oder?
Edit: Nachdem ich nun nach einem Hinweis (siehe Kommentare) festgestellt habe, dass der um 90° verdrehte Schachtisch inzwischen allgemeines Thema in den (Online)-Medien ist (vgl. etwa ein wunderbar spöttisches SZ-Interview mit der Fotografin), möchte ich doch feststellen, dass ein von den Herren im Eifer des Fototermins falsch aufgestellter Tisch vielleicht von Unachtsamkeit zeugt; die politische Bedeutsamkeit der obengenannten Details wird durch die Farbe des Eckfeldes allerdings nicht beeinflusst und ist nach wie vor in aller Tragweite zu beachten.
Bildnachweis (5): http://www.hoffmann-und-campe.de/getcover.cfm?pic=97834555019711.jpg (“druckbares Cover”)
Glückwunsch! Eine wirklich schöne und unterhaltsam geschriebene Analyse. Habe ich sehr gerne gelesen.
Freut mich, dass dieses bescheidene Blog nun auch in Aserbaidschan verfolgt wird!
Sehr gut beobachtet. Mich würde noch interessieren, ob die Läufer für jede Farbe auch auf unterschiedlichfarbigen Feldern stehen, denn nur dann kann man sich sicher sein, dass wirklich Gehirnschmalz in die Komposition des Bildes geflossen ist. Ansonsten gilt meine Einstellung zum Deutschunterricht in der Oberstufe …
Wieviel Gehirnschmalz in die Bildkomposition geflossen ist oder eben nicht, zeigt inzwischen ja ein Interview mit der Fotografin (siehe Edit).
Magst Du Deine Einstellung zum Deutschunterricht in der Oberstufe vielleicht einmal in einem Gastbeitrag verewigen?
Ich für meinen Teil vermisse ja den kunsthistorischen Kennerblick: ist doch ganz offensichtlich, dass die Nähe der beiden Hände eine Reminiszenz an Michelangelos “Die Erschaffung des Adam” (http://de.wikipedia.org/wiki/Datei:Creation_of_Adam_%28Michelangelo%29_Detail.jpg) darstellt; DIE symbolische Tragweite wiederum kann sich jeder selbst zusammenreimen…
Ansonsten: Christiane likes this (oh, da gibt es ja sogar den entsprechenden Button)
PS: Den Artikel kennst Du, oder: http://www.spiegel.de/politik/deutschland/0,1518,794490,00.html
(das wäre dann 7.)
Nein, den Artikel kannte ich nicht! Ich habe mir schon gestern Gedanken über das absonderliche Schachspiel gemacht und mit meinem Text bis zur Buchveröffentlichung gewartet. Und heute gearbeitet und geschrieben, statt SpOn zu lesen. Tja. Und, zugegeben, meine Schach-Notationen habe ich davon ausgehend berechnet, dass das Brett richtig steht, auf die Feldfarbe in der Ecke habe ich nicht geachtet. Naja, das ist ja nur ein Detail der Geschichte…