Kunst aus Dunst
Regelmäßige Leser wissen, dass Wettervorhersagen eigentlich nicht zu den typischen Themen dieser Seite gehören. Eher noch verstehen wir uns ja bekanntlich als Kunst-Blog mit besonderer Leidenschaft für Mark Rothko. Doch mit diesem geschärften Blick des Liebhabers moderner Kunst kann die aktuelle Wetterkarte nicht unbeachtet bleiben. Dazu einige Überlegungen auf der Meteo-Ebene:
Wann hat man schon solche Farbvielfalt gesehen? Die Intensität des blauen Streifens, der sich gleich einer Schärpe von der Kunsthalle Emden bis zum Grünen Gewölbe in Dresden über Deutschland zieht. Der rote Fleck rund um Schirn und Städel in Frankfurt. Dieser fast schon vulgär ins dunkelrot changierende Streifen an der französischen Grenze, um dann spielerisch durch die burgundische Pforte zu verlaufen. “16!”, schallt es uns stolz aus Freiburg entgegen, damit auch jeder merkt: Wieder einmal ist der Frühling in Südbaden auf dem Höhepunkt seiner Schaffensphase. Dagegen die “0″, passenderweise in einem von der Wetterkarte als terra incognita verwaist gelassenen Gebiet. Was mag es hier geben, fragt sich der Betrachter, in den tiefblauen Weiten zwischen Hannover und Berlin? Braunschweig, Helmstedt, Wolfsburg werden hier angemessen gewürdigt: Es ist alles einfarbiger Dunst.
Verstört bleibt der Blick an dieser Farblinie haften, dort wo die kalten, blau-grünen Töne auf den warmen, gelb-roten Bereich treffen. Woran orientiert sich diese, wie zufällig unstet zitternde Linie? Die “8″, gleich einer angedeuteten Doppelhelix genau auf der Farbgrenze postiert, lässt auf eine unfassbare Tiefgründigkeit des Künstlers schließen. Unweit östlich, wieder genau auf dem Übergang, eine zur “3″ zerrissene, halbe “8″, etwa dort, wo einst Stacheldraht und Todesstreifen Bayern von Thüringen trennten. Wieder und wieder starrt der Kunstfreund diese Linie an, sie brennt sich in seine Netzhaut. Der Künstler hat hier wahrhaft ein Meisterwerk geschaffen.
Ein Geistesblitz durchzuckt den Betrachter, plötzlich wird ihm die Bedeutung der Bruchlinie bewusst, er erfasst mit einem Blick die konsumkritische Aussage des Werkes: Hier, entlang dieser scheinbar keiner Logik folgenden Kante, verläuft sie, die grenze zwischen kaltfarbigem und warmfarbigem Kommerz, zwischen dem von Blautönen beherrschten Aldi-Nord und dem gelb-orange umrahmten Aldi Süd. Die Zahlen, wir haben sie naiv für Temperaturen gehalten, weisen uns den Weg zu Versprechungen immer neuer Sonderangebote. Der Aldi-Äquator: Nie wurde er mit solch kreativer Wucht auf die Leinwand gezaubert.
Bilder (Screenshots): www.tagesschau.de; www.aldi-nord.de; www.aldi-sued.de.